– Eine Wahnsinnsarie

„Wenn sie ihr Talent erst einmal voll ausgeschöpft hat, werden wir James Joyce vielleicht nur noch als den Vater seiner Tochter kennen”
Paris Times, 1928

Zusammenfassung
In „Abgesang auf Lucia Joyce – Eine Wahnsinnsarie“ begibt sich das feministische Kollektiv der grosse tyrann auf eine Spurensuche nach Lucia Joyce. Als Tänzerin war sie in den 1920er Jahren in Paris Teil der Avantgarde. Sie war das begabte Kind eines der prägendsten Schriftsteller der literarischen Moderne und sie endete in der Psychiatrie. Zusätzlich überschattet wurde ihr Andenken durch die berühmten Männer die sie umgaben: Tochter von James Joyce, Geliebte von Samuel Beckett und Patientin von C.G. Jung. Psychische Krankheit war und ist stark stigmatisiert. Wohl auch deshalb ist kaum etwas von ihr überliefert. Fast sämtliche ihrer Briefe sowie ihre Krankenakten wurden vernichtet. Auf der Bühne stehen Liliane Koch (Performance), Wanda Wylowa (Spiel), Niklaus Kost (Operngesang) und Simon Fleury (Tanz). Da die Quellenlage schwierig ist, nutzt der grosse tyrann die Mittel des Theaters, um sich in Lucia Joyce’ Lage zu versetzen, ihre Geschichte zu reimaginieren und dieser verdrängten Figur ein künstlerisches Denkmal zu setzen. Es entsteht eine mehrdimensionale Erzählung: Die vier Performer:innen suchen nach ihr über die Sprache, die Bewegung und den Klang.

Die Ikone – Lucia Joyce
Lucia Joyce wurde 1907 in Triest, Italien, als Tochter von James Joyce und Nora Barnacle sowie jüngere Schwester von Giorgio Joyce, geboren. Sie wurde benannt nach der Lieblingsoper ihres Vaters „Lucia di Lammermoor“ von Gaetano Donizetti. Darin geht es um eine junge Frau, die „wahnsinnig“ wird. Die Familiensprache war italienisch, deshalb wird auch ihr Name italienisch ausgesprochen. Ihr Leben war von vielen Umzügen geprägt – sie lebte in der Schweiz, in Frank- reich, Grossbritannien, Italien. Sie hatte einen eigenen Zugang zu Sprache, der James Joyce faszinierte. Sie erfand neue Worte, wechselte zwischen verschiedenen Sprachen hin und her – sie machte instinktiv, was er als rigide intellektuelle Disziplin betrieb.
Sie studierte modernen Ausdruckstanz, befasste sich aber auch mit klassischem Ballett. Sie schloss sich einer Tanzkompanie an, unternahm Tourneen durch Europa. Charles de Saint Cyr (einer der führenden Pariser Ballettkritiker) nannte sie 1928 in einem Artikel „eine sehr bemerkenswerte Künstlerin“, die zu- gleich über „subtile sowie barbarisch-primitive“ Ausdrucksmittel verfüge.
Für Lucia war der Tanz nicht nur Beruf, sondern zusätzlich eine Bewältigungsstrategie, mit der sie ihre Wut und ihr überbordendes Temperament im Zaum hielt. Ein Werkzeug mithilfe dessen sie Kontrolle über ihren Körper und Geist ausübte. Nach einem Wutanfall Lucias ergriff Giorgio die Initiative und liess seine Schwester zum ersten mal in eine psychiatrische Klinik einweisen. Fortan begann ihr Leidensweg durch verschiedene Institutionen. Die Ärzte waren sich uneinig, manche hielten sie bloss für „neurotisch“, andere diagnostizierten eine Schizophrenie. Ihr Vater verfolgte noch das Ziel, sie wieder in die Gesellschaft einzugliedern und glaubte nicht an ihren angeblichen „Wahnsinn“. Nach seinem Tod 1941 blieb sie in der Psychiatrie. Sie starb im Jahr 1982 in einer Klinik in Northhampton, England, wo sie auch begraben ist. Lucia Joyce hat ihre ganze Familie überlebt. Doch während das Werk ihres Vaters als unsterblich gilt, ist von ihr kaum etwas übrig geblieben.

Motivation
der grosse tyrann hinterfragt den Mythos von „Genie“ und „Wahnsinn“. der grosse tyrann glaubt nicht an „Genies“. der grosse tyrann praktiziert kollektive Autor:innenschaft, denn „der Autor ist tot“. Ausserdem reizt es der grosse tyrann, das Drama der ganz grossen Oper auf die Garagenbühne des Hyperlokals zu bringen.
Eine Enttabuisierung, Entstigmatisierung und offener Umgang mit Neurodiversität ist dringend notwendig und dieses Stück soll einen Teil dazu beitragen.
der grosse tyrann widmet sich der Frage: Wer entscheidet eigentlich über psychische „Normativität“?.
Bei der Unterdrückung und Einschränkung neurodiverser Positionen spielen patriarchale Strukturen eine wichtige Rolle. In diesem Fall dient die Vater-Tochter-Beziehung als Beispiel für patriarchale Herrschaftsverhältnisse. Jung erklärte Lucias Verhalten damit, dass sie im psychischen System ihres Vaters gefangen geblieben sei und kein unabhängiges Seinsgefühl habe entwickeln können. Der Casus Lucia Joyce ist beispielhaft für den Zusammenhang von psychischer Gesundheit mit patriarchalen Normen.

Besetzung
Liliane Koch………………………………Konzept, Regie, Text, Performance
Wanda Wylowa…………………………Co-Regie, Text, Performance
Niklaus Kost……………………………..Operngesang, Musik, Performance
Simon Fleury…………………………….Tanz, Choreografie, Performance
Maude Hélène Vuilleumier……….Kostüm, Bühne, Produktionsleitung
Jonas Labhart……………………………Musik, Oreille extérieure
Timo Krstin……………………………….Technik, Œil extérieur
Christopher Kriese……………………Produktionsleitung, Œil extérieur
Gastbeitrag von Simone Fasnacht www.madnesst.com
Premiere: 7. Oktober 2022 um 20:00 Uhr, Hyperlokal, Zürich
Weitere Aufführungen: 9./14./15./16. Oktober 2022, Hyperlokal Zürich
Gastspiele:
12./13./14. Mai 2023, Theaterwerkstatt Gleis 5, Frauenfeld
24./25. November 2023, Theater im Ballsaal, Bonn

Förderung




