Piece of Me

– Wollt ihr ein Stück von mir?

Aufzeichnung vom 15. Januar 2022

Inhalt des Projekts

I’m “Miss American Dream”, since I was seventeen
B. Spears (2007)

Foto: Christian Glaus

Wir als feministisches Kollektiv der grosse tyrann beschäftigen uns in unseren Arbeiten mit weiblichen Ikonen. Anhand dieser bringen wir gesellschaftlich relevante Themen auf die Bühne. Für “Piece of me – Willst Du ein Stück von mir” nehmen wir uns DIE Pop-Ikone der frühen 2000er – Britney Spears – vor. Ihre Geschichte war ein modernes Märchen, die Verkörperung des American Dream: vom einfachen Mädchen aus dem Süden zum Weltstar. Doch auf den kometenhaften Aufstieg folgte ein tiefer Fall, der in ihrer Entmündigung gipfelte.
In ihrem Song “Piece of me” aus dem Jahr 2007 rechnet sie ab mit der Paparazzi- und Klatschpressenkultur, die ihr Privatleben kommerziell ausschlachtete. Die zunächst euphorisierende Aufmerksamkeit, die ihr zuteil wurde, beginnt sie zu erdrücken. Sie versucht auszubrechen aus ihrem perfekten Image, zu rebellieren, schlägt mit dem Regenschirm auf das Auto eines Paparazzo ein, der sie nachts an der Tankstelle aufgespürt hat. 2008 bis 2021 stand sie aus der Öffentlichkeit unbekannten Gründen unter der Vormundschaft ihres Vaters. Die häufig als “Princess of Pop” bezeichnete Spears war 13 Jahre ihres Lebens in ihren Rechten stark eingeschränkt, durfte nicht Auto fahren, nicht schwanger werden, nicht heiraten, wurde zu Auftritten gezwungen, die sie nicht machen wollte, während sich andere an ihr und ihrem Erfolg bereicherten
der grosse tyrann bringt anhand der Ikone Spears eine Skizze zum Thema Vormundschaft und Sexismus im Pop auf die Bühne.

Foto: Christian Glaus

Motivation

Die Interviews mit Spears verursachen aus heutiger Sicht Unbehagen:
Die 10jährige wird gefragt, ob sie einen “boyfriend” habe, die 17jährige bekommt “let’s talk about your breasts” zu hören, immer wieder ist ihre sexuelle (Un)erfahrenheit Thema, ihr “Lolita-Look”, der etwa ältere Männer verführen solle? Damals lachten viele über das unbeholfen und schüchtern wirkende Mädchen, das von den expliziten Fragen beschämt ist. Britney Spears – die Verkörperung des “Girl next door” ist eine Projektionsfläche. Sie ist durch ihr Image vor die Aufgabe gestellt, nicht aufzulösende Widersprüche zu vereinen: Einerseits performt sie lasziv, sexy, singt anzügliche Texte, andererseits behauptet sie über Jahre ihre Jungfräulichkeit und bezieht sich auf ihre christliche Erziehung.
In ebendieser Zeit, mit ebendiesen widersprüchlichen Erwartungen sind Liliane Koch und Maude Hélène Vuilleumier aufgewachsen. Für Vuilleumier und Koch war Spears als Teenager eine Anti-Ikone und zugleich das Frauenbild, an dem sie sich messen mussten. “Piece of me – Willst Du ein Stück von mir?” begibt sich auf eine Zeitreise in unsere Jugend und eröffnet eine neue Perspektive auf die (Pop)kultur und das darin propagierte weibliche Ideal.

Foto: Christian Glaus

Dringlichkeit

I worked seven days a week no days off,
which in California the only similar thing
to this is called sex trafficking. Making anyone
work against their will, taking all their possessions away —
credit cards, cash, phone, passport card and placing them in
a home where they work with people who live with them.
[…] my dad and anyone involved in the conservatorship
they should be in jail.
Britney Spears (2021)

Der vielbeachtete Fall von Britney Spears zeigt, dass selbst weibliche Popstars, wenn sie unangenehm auffallen, ihre Stimme und Rechte verlieren können. Der Begriff “Vormund” geht auf die Wehrverfassung des Frühmittelalters zurück und bedeutet „Schirm, Schutz, Gewalt“. Nur Menschen, die sich selbst mit der Waffe schützen konnten, galten als “mündig”. Die Etymologie zeigt, dass weibliche Mündigkeit zunächst gar nicht mitgedacht wurde und Vormundschaft direkt mit patriarchaler Gewalt zu tun hatte.
Durch das Konzept der Vormundschaft bzw. der Entmündigung entsteht ein Machtverhältnis, das die Bedingungen für Missbrauch aller Art schafft. Im Casus Britney Spears geht es um ein beträchtliches Vermögen und somit ist Misstrauen gegenüber potenziellen Nutzniessern – selbst wenn sie zu ihrer Familie gehören – angebracht. Spears war zudem während ihrer Vormundschaft beruflich sehr aktiv und weiterhin hoch erfolgreich. Eine Person die dermassen produktiv ist (zwei Welttourneen, die zur erfolgreichsten der Dekade gehören, fester Job als Jurorin in der Fernsehhow X-Factor, zwei neue Studio-Alben, eine vierjährige Residenz in Las Vegas mit fast täglichen Auftritten und ihr als zentraler Performerin), für dysfunktional zu erklären, erscheint unglaubwürdig.
Vuilleumier und Koch, die von allem was Spears verkörperte, immer abgestossen waren, bemühen sich um eine Annäherung an die Pop-Prinzessin und eine Neu-Bewertung ihres Mythos als langen Kampf um Emanzipation.

Foto: Christian Glaus

Team

Künstlerische Leitung / Performance / Konzept: Maude Hélène Vuilleumier und Liliane Koch
Musik: Jonas Labhart, Britney Spears

Aufführungen

Im Rahmen des Inkubator in der roten Fabrik am 14. / 15. Januar 2022